„Die Beziehungsebene ist die wichtigste Basis für Gewaltprävention“
Thilo Nonne schult Kolping-Schulwerk-Mitarbeitende im Pilotprojekt
Gewalteskalationen – insbesondere unter männlichen Jugendlichen – haben in der letzten Zeit immer wieder Schlagzeilen gemacht. Nicht nur bei Großevents, sondern auch im Alltag gibt es eine Tendenz der Gewaltzunahme. Auch im Kontext von Bildungseinrichtungen nimmt das Thema an Bedeutung zu. Daher möchte das Kolping Schulwerk seine Mitarbeitenden bestmöglich gewappnet sehen, um mit der Problematik umzugehen. In einem Pilotprojekt sensibilisierte Thilo Nonne die Fortbildungsteilnehmenden für die Ursachen von Gewalt, für die Selbstreflexion und für einen konstruktiven Zugang zu Konflikten. Im Interview gibt der Mediator und A.T.C.C.-Trainer für Konfliktbearbeitung & Transkulturelles Lernen einen Einblick in das eintägige Seminar zur Gewaltprävention und wie Mitarbeitende zu einem gewaltfreien Umgang mit Konflikten beitragen können.
Thilo Nonne ist Mediator und A.T.C.C.-Trainer für Konfliktbearbeitung & Transkulturelles Lernen. Foto: Luzia Schmincke Schulwerk: Wie war Ihr Eindruck von dem Seminar?
Thilo Nonne: Mein Eindruck war sehr positiv. Ich habe die Teilnehmenden als sehr engagiert und interessiert empfunden, als sehr motiviert mitzumachen. Es war für alle sehr hilfreich und wertvoll, diesen Raum zu haben, um sich auszutauschen. Ich glaube, dass wir zu einem guten Dialog gekommen sind zu dem Thema.
Schulwerk: Welches sind die Themen, die die Teilnehmenden am meisten beschäftigen?
Nonne: Es ist unterschiedlich gelagert, weil es unterschiedliche Einrichtungen sind. Ein Thema, das aber immer wieder aufkam, sind Grenzüberschreitungen in sozialen Medien. Etwas, was außerhalb der Schulzeiten stattfindet und trotzdem wieder in den schulischen Kontext und in die Einrichtungen mit reinspielt. Ein weiteres wiederkehrendes Problem sind Verweigerungshaltungen und Störungen im Unterricht oder der Einrichtung, die zu Unterbrechungen führen und etwas Eskalierendes haben.
Machtraum versus Ohnmachtsraum
Schulwerk: Welche Faktoren spielen bei der Entstehung von Gewalt eine Rolle?
Nonne: Es gibt verschiedene Faktoren, die Gewalt unterstützen, hervorrufen und provozieren. Ich arbeite mit dem Modell des Gewaltforschers Johan Galtung, der drei Faktoren – kulturelle, strukturelle und personelle Gewalt – benennt. Auf der persönlichen Ebene werden, wenn Menschen in Stress geraten oder Angst haben, verschiedene Schutzmechanismen aktiviert. Eine Möglichkeit dabei ist Kampf als Verteidigung. Gerade in Situationen, in denen es schnell eskaliert und es zu Handgreiflichkeiten kommt, ist dies ein großer Faktor, der die Eskalation vorantreibt. Aus einer Hilflosigkeit heraus wird Gewalt als Notwendigkeit empfunden. Es ist wichtig zu verstehen, dass oft sehr viel Stress im Hintergrund steht. Dann gibt es den strukturellen Faktor. Struktur umfasst alles rund um Macht, Rollen, Institutionen, äußere Gegebenheiten. Die strukturelle Ebene habe ich mithilfe des Machtraummodells des A.T.C.C.-Ansatzes präsentiert. Wenn wir von Macht sprechen, geht es um Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten. Macht im positiven Sinne als eine Möglichkeit, über Dialog, über Vertrauen und über Verantwortung Dinge positiv zu gestalten. Wenn das nicht mehr funktioniert, kippe ich in einen Ohnmachtsraum. Ich kämpfe gegen das Ohnmachtsgefühl an, indem ich ständig versuche Macht zu erhalten und mich zum Beispiel auch auf einer körperlichen Ebene durchzusetzen. Der dritte Faktor ist die kulturelle Ebene. Kultur versteht sich nach dem A.T.C.C-Ansatz als das, was im Hintergrund als Wertvorstellungen mein Denken, mein Fühlen und mein Handeln rechtfertigt. Da geht es nicht um nationale Kulturen, sondern es geht um ganz verschiedene kulturelle Prägungen, die wir haben. Hauptsächlich haben wir über Männlichkeitskultur gesprochen. Das, was gesellschaftlich mit Männlichkeit assoziiert wird, bedeutet dominant, stark, unabhängig, rational und aktiv sein. Wenn mein Denken, Handeln und Fühlen darauf basiert, dass ich diese Faktoren erfüllen muss, bin ich ganz schnell in einem gewaltvollen Zustand, wenn Dominanz beispielsweise nicht mehr anders funktioniert.
Dialog ist wichtig
Schulwerk: Inwiefern kann das Verstehen des „Wie“ helfen, Konflikte zu lösen?
Nonne: Wenn ich die Faktoren kenne, die mitreinspielen, kann ich meine Handlungsoptionen gezielter und deeskalierender einsetzen. Wenn wir merken, dass die Stimmung geladen wird, dann ist unser normaler Handlungsantrieb, dass wir „Herr“ der Situation werden wollen. Dann entstehen Machtspielchen. Wenn ich aber nicht im Dialog bleibe, kippe ich in ein Gewaltsystem. Orientierung bietet mir die Erkenntnis, dass der Dialog wichtig ist, um im positiven Machtraum zu bleiben. Wenn ich verstehe, dass die anderen in einer Stresssituation sind, dann sehe ich, dass die etwas ganz anderes brauchen als das, was vielleicht mein erster Impuls wäre. Das braucht natürlich Übung. Manchmal ist es falsch gedacht – und das ist institutionell bedingt –, dass wir an dem Unterricht festhalten könnten, wenn eigentlich ganz andere Probleme bestehen. Es ist häufig gut investierte Zeit, einen Konflikt gut zu bearbeiten, weil es präventiv hilft für zukünftige Konflikte. Am besten die Schüler*innen bereits ansprechen, bevor eine Situation eskaliert, und gemeinsam besprechen, was gerade los ist und was sie möglicherweise brauchen. Wir entwickeln dadurch eine ganz andere Kultur miteinander. Es geht nicht darum, auszudiskutieren, wer recht hat, sondern um die Frage, wie wir miteinander im Austausch bleiben können. Es ist wichtig, vorher schon eine Verbindung aufzubauen, eine gute Basis zu schaffen für eine Dialogebene. Die Beziehungsebene ist die wichtigste Basis für Gewaltprävention. Und ich hatte in der Schulungsgruppe den Eindruck, dass sind alles gut ausgebildete Pädagog*innen, die sehr bemüht sind, einen guten Zugang zu den Schüler*innen zu finden. Ich glaube, das ist die beste Prävention.
Meine eigenen Empfindungen benennen
Schulwerk: Welchen Stellenwert nimmt die Selbstreflexion der Mitarbeitenden in der Gewaltprävention ein?
Nonne: Erstens meinen eigenen Stress, meine eigenen Ohnmachtsgefühle erkennen. Zweitens die ersten Mittel, die mir in den Sinn kommen, reflektieren. Will ich den*die Schüler*in mit einer Bestrafung beschämen oder wie kann ich das anders handhaben und die Klasse miteinbeziehen? Der beste Hinweisgeber für das, was gerade gut tun würde in der Situation, ist eigentlich mein eigenes Empfinden. Ich kann beispielsweise sagen: „Ich merke gerade, wir kommen hier nicht weiter und ich fühle mich ein bisschen ohnmächtig. Lass uns doch mal gemeinsam überlegen, wie wir das machen können.“ Das widerspricht der Vorstellung, ich dürfe keine Schwäche zeigen, ich müsse „Herr“ der Situation bleiben. Aber dann bleibe ich in dem Ohnmachtsgefüge. In dem Moment, in dem ich meine Empfindungen benenne, ist das wie eine Einladung an die anderen, die oft auf fruchtbaren Boden fällt. Ich benenne mein Gefühl, um ein konstruktives Gespräch zu starten. Damit übernehme ich Verantwortung für mich und bin ein Vorbild für die Schüler*innen, die ich versuche mit in die Verantwortung zu nehmen. Damit kreiere ich als Leitung in einem Raum eine Kultur, dass Konflikte, dass Frust angesprochen werden können. Das funktioniert beim ersten Mal nicht in fünf Minuten. Aber wenn ich es ein paar Mal gemacht habe und mir vielleicht auch mal eine ganze Stunde dafür genommen habe, ist das eine gute Voraussetzung.
Schulwerk: Was kann eine Einrichtung tun, um der Entstehung von Gewalt vorzubeugen?
Nonne: Mitarbeitende zu schulen, damit alle Lehrkräfte Zugang zu dem Thema bekommen. Was institutionell hilfreich wäre, sind Räume für gemeinsamen Austausch zu schaffen. In Form von Supervisionen oder expliziten Konferenzräumen oder auch einem Fortbildungstag. Auch nach Vorfällen eine Nachbegleitung oder eine Reflexion anzubieten, ist wichtig. Sich auch zu fragen: Welche Konfliktkultur leben wir miteinander? Das schließt auch den Konflikt der Lehrkraft zur Schulleitung mit ein oder den Konflikt zwischen Kolleg*innen. Schaffen wir Räume, wo wir das explizit mal ansprechen dürfen. Wenn ein Kollegium das miteinander übt, färbt das auch auf den Umgang mit den Schüler*innen ab. Es gibt ein schönes Zitat von Max Frisch: „Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“ Was können wir also tun, um die Angst vor dem Konflikt zu nehmen? Das sind Bereiche, wo angesetzt werden kann.
Großes Interesse an Selbstreflexion
Schulwerk: Womit hat das Plenum Sie überrascht?
Nonne: Die Dimension, was soziale Medien in Bildungsinstitutionen bedeuten, war mir nicht bewusst. Positiv war ich überrascht, wie sehr sich die Teilnehmenden dieses Seminars darauf eingelassen haben, sich selbst zu reflektieren und daran auch interessiert sind. Ich habe den Eindruck, dass das Kolping Schulwerk ein anderer institutioneller Kontext ist als andere Schulkontexte. Es gibt hier offenbar schon eine andere Kultur, ein anderes Bemühen.
Schulwerk: Was ist der größte Lerneffekt, den die Teilnehmenden mitgenommen haben?
Nonne: Viele haben gesagt: „Das Konzept von Macht und Ohnmacht gibt mir Handlungsoptionen.“ Ich habe den Eindruck, dass hat viel Resonanz erzeugt. Was sich zudem in den Beispielen gezeigt hat, mit denen wir gearbeitet haben, ist, dass man oft die eigene Beteiligung gerne vergisst. Wie geht es mir in dem Konflikt? Wie spielt das mit rein? Was reproduziere ich unbewusst? Ein konstruktiver Umgang mit Konflikten funktioniert nur, wenn ich mich selber als Mensch, nicht nur als Lehrer, mit meinen Empfindungen – der Rolle entsprechend – einbringe. Das war immer wieder ein Aha-Moment.
Die nächste Möglichkeit, sich zum Thema Gewaltprävention - „Ursachen von Gewalt erkennen und konstruktive Umgänge entwickeln"- schulen zu lassen, bietet sich am 13. Dezember 2023 im Hotel Susato in Paderborn.