Demenzsimulator: Wenn die einfachsten Dinge schwerfallen
Unkoordiniert bewegt sich der Holzlöffel durch das Glasschälchen. Nach vorne, links oder nach rechts? Wieder die falsche Richtung erwischt und ins Leere gegriffen. Neuer Versuch, eine Murmel zu erwischen. Doch die Löffelschale dreht sich nach unten, statt in den richtigen Neigungswinkel zu kippen. Erneuter Versuch. Ungelenk dreht sich das hölzerne Essgerät um die Murmeln herum, die einmal mehr auseinandersprengen. „Mit dem Löffel eine Murmel aus der Schüssel holen und in einen Becher füllen.“ Der Arbeitsauftrag hört sich nicht kompliziert an. Wenn es sich nicht um eine Aufgabe beim Demenzsimulator handeln würde, der für seine Proband*innen seine ganz eigenen Tücken bereithält.
Schüler*innen am TGB haben am Demenzsimulator erlebt, wie schwer die einfachsten Dinge fallen können. Foto: Jana Sudhoff An jeder Station werden Alltagssituation der fiktiven Protagonistin Erna Müller nachgespielt. Begleitet wird die demenzerkrankte Dame durch einen kompletten Tagesablauf: vom Anziehen, Frühstücken, Einkaufen, Kochen und Backen bis hin zum Abendessen. Und zum abendlichen Mahl steht schon eine Schale Obst für Erna bereit. Die Kinder haben alles vorbereitet. Erna muss die Kirschen (Murmeln) „nur“ noch aus der Schale picken. Aber nicht nur für Erna funktionieren die Dinge nicht mehr so, wie sie es gewohnt ist. Auch die Proband*innen des Demenzsimulators kommen an ihre Grenzen. Die simulierte Crux für sie: Das „Abendessen“ befindet sich in einer Holzbox, in der das Obst in den Bechern angerichtet werden soll. Doch sehen sie ihre Hände nicht von oben, sondern nur durch einen schräg eingelassenen Spiegel. „Das ist ein bisschen wie Anhängereinparken, alles ist immer andersherum“, stellt man schnellt fest und scheitert dennoch oft gnadenlos.
„Das Frühstück ist eine Meisterleistung“
„Demenzerkrankte sehen nicht spiegelverkehrt, aber es geht um das Erleben. Mit dem Spiegel zerstören wir unsere sinnvolle Wahrnehmung, so dass uns die einfachsten Dinge ganz schwerfallen“, erklärt Anna Mühling, Sozialpädagogin mit dem Schwerpunkt Demenz und Senioren. Für ihre Fortbildungsarbeit mit Menschen, die mit Demenzerkrankten zu tun haben, hat sie jetzt den 13-teiligen Demenzsimulator im Repertoire. Das erste Mal ausgepackt hat sie den Simulator für das Theresia-Gerhardinger-Berufskolleg Warburg-Rimbeck (TGB). Ausprobieren konnte ihn die angehenden Sozialassistent*innen mit dem Schwerpunkt Heilerziehung im ersten Ausbildungsjahr. Auch die Lehrer*innen des TGB waren eingeladen, den Demenzsimulator kennenzulernen.
Ein einfaches Frühstück zu organisieren, ist eine Meisterleistung. Foto: Jana Sudhoff Zu viert probierten sie sich an der „Frühstücksstation“. „Decke den Tisch, wie du es immer gemacht hast“, lautete die Anweisung an Erna von ihren Kindern. Und so galt es für die Rimbecker Lehrer*innen, die „Frühstücksfotos“ in die richtige chronologische Reihenfolge zu legen – für einen Kaffee mit Milch und Zucker und ein mit Käse belegtes Brötchen. „Wann kochen wir den Kaffee? Machen wir das zwischendurch schon? Aber decke ich nicht vorher schon den Tisch? Ist das ein Kaffee- oder Zuckerlöffel?“ – „Wir sind gerade etwas durcheinander“, wunderten sich die Lehrkräfte, welche Dimensionen ein Frühstück für eine Person annehmen kann. 42 Handlungsschritte, wie sich später herausstellte. „Und man muss sich über jeden einzelnen Schritt im Klaren sein. Dann ist Frühstück eine Meisterleistung“, lautete ihr Fazit. „Diese Aufregung nur für ein Frühstück“, hörte man sie zwischendurch schimpfen.
Die Dimensionen sind erschreckend
Ähnliche Flüche hatte man zuvor von den Schüler*innen vernommen. „Ich bin so wütend geworden“ – „Das war total frustrierend“ – „Ich hab‘ dann gedacht, ich mache das einfach nicht mehr“ – Wie von selbst haben sie erlebt, wie es sich anfühlt, wenn Symptome einer Demenz Alltagssituationen erschweren oder gar unmöglich machen. „Auch Menschen mit Demenz fühlen sich hilflos, werden sauer, werfen mit Sachen oder werden ganz traurig“, erklärt Anna Mühling die gängigen Reaktionen der Menschen, wenn sie feststellen müssen: „Die Dinge funktionieren nicht mehr, egal wie sehr ich es versuche.“ Schüler*innen und Lehrer*innen des TGB haben durch den Simulator schnell gelernt, sich in die Lage von Demenzerkrankten zu versetzen und ihnen empathischer entgegenzutreten. „Ich bin nachsichtiger und verständnisvoller, weil ich weiß, wie es für die betreffende Person ist“, schlussfolgerte eine Schülerin. „Dass man sich als Angehörige komplett umstellen muss, weil man Hilfe für alles organisieren muss“, lautete eine andere Erkenntnis. Allen voran erschreckend war es für die Berufsschüler*innen zu erfahren, dass zur Demenz viel mehr gehört als Vergesslichkeit, sondern dass Demenz weitreichende gravierende Veränderungen bedeuten kann.
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Anna Mühling
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