Hinschauen, zuhören und unterstützen
Kolping-Lehrkräfte wurden zu Ersthelfenden für psychische Gesundheit ausgebildet
Zu Ersthelfenden für psychische Gesundheit haben sich jetzt 26 Lehrkräfte aus den Schulwerk-Kollegien ausbilden lassen. Im Workshop „Erste Hilfe für psychische Gesundheit“ bekamen sie Basiswissen über psychische Erkrankungen und einen Baukasten mit fünf Schritten der Ersten Hilfe an die Hand. In zwölf Seminarstunden haben sie gelernt, Anzeichen von psychischen Störungen zu erkennen, zu verstehen und darauf zu reagieren. Das Kolping Schulwerk sprach mit Dr. Christiane Köster, Vorsitzende des Internationalen Instituts für psychische Gesundheit, über die Aufgaben eines Ersthelfenden, die Aha-Erlebnisse im Workshop, die Konsequenzen für den Unterricht und die wichtigste Botschaft an Menschen mit psychischen Problemen.
26 Lehrkräfte aus den Schulwerk-Kollegien wurden zu Ersthelfenden für psychische Gesundheit ausgebildet. Mit dabei Kolleg*innen aus den Berufskollegs aus Brakel, Delbrück, Detmold und Paderborn. Schulwerk: Mit „Erster Hilfe“ assoziieren viele erst einmal Akutlagen und Notfälle. In welchen Situationen ist ein Ersthelfender für psychische Gesundheit gefragt?
Dr. Christiane Köster: Es kann akut sein, muss es aber nicht. Erste Hilfe für psychische Gesundheit bedeutet vielmehr, dass man schon im Vorfeld genau hinschaut – im Kollegium, in der Familie, im Freundeskreis, in der Schulklasse. Wie geht es einem Menschen? Hat sich die Person in der letzten Zeit verändert? Hat sie sich zurückgezogen? In dem Workshop geht es darum, den Teilnehmenden Sicherheit und Gesprächsstrategien zu vermitteln, wie man jemanden ansprechen, unterstützen und ihm Hilfe anbieten kann. Man bekommt einen Baukasten mit fünf Schritten an die Hand, an denen man sich entlanghangeln kann. Man lernt und übt hinzuschauen, offen und unvoreingenommen ins Gespräch zu kommen, Unterstützung und Informationen zu geben, professionelle Hilfe zu finden und zu ermutigen, eigene Ressourcen zu aktivieren.
„Du bist mir wichtig“
Schulwerk: Das hört sich nicht nach Fachchinesisch an. Doch wie sieht das in der Praxis aus?
Köster: Es ist wichtig, dass das jeder anwenden kann. Natürlich sollte man üben, damit man sich traut, auf Personen zuzugehen und die richtigen Fragen zu stellen. Die wichtigste Botschaft ist: Du bist mir wichtig. Der beste und einfachste Gesprächsbeginn ist daher: „Mir ist aufgefallen, dir geht’s nicht so gut. Mir ist aufgefallen, dass… Was ist los? Das bewirkt oft schon sehr viel. Menschen sehnen sich nach mehr Zuspruch. Oftmals ist es das, was den Menschen am meisten hilft. Teilweise leiden sie über mehrere Wochen und Jahre an einem bestimmten Problem. Für viele ist das ein entscheidender Moment: Mich sieht jemand, mich spricht jemand an.
Entscheidend ist, dass man das richtige Setting aussucht. Ich würde niemandem im Beisein anderer ansprechen. Ansonsten können sich solche Gespräche in einem ganz normalen Kontext ergeben: beim Shoppen oder Spazierengehen mit einer Freundin, in der Teeküche mit einem Kollegen. Das kann geplant sein, muss es aber nicht. Und nicht alle Punkte des Ersthelfens müssen im ersten Gespräch abgearbeitet werden. Man kann auch in zwei, drei, vier Gesprächen unterstützen.
Schulwerk: Welchen Kardinalfehler könnte ich begehen?
Köster: Kardinalfehler könnte sein, dass man Diagnosen stellt. Ersthelfende können keine Diagnosen stellen. Einem Ersthelfenden fällt etwas auf, er*sie hört zu und unterstützt.
Schulwerk: Welche besonderen Anforderungen muss ein Workshop für Lehrkräfte berücksichtigen?
Köster: Ich gehe mehr auf die Diagnosen ein, die wir auch in den Klassenräumen haben: Diagnosen wie Autismus, ADHS und Borderline. Bei Workshops bei Wirtschaftsunternehmen bringen ich andere Themen und Inhalte mit, beispielsweise Burn-out.
Aha-Erlebnisse zum Thema Borderline und ADHS
Schulwerk: Welche Fallbeispiele wurden besonders diskutiert?
Köster: Das Thema Borderline. Damit hatten die meisten Lehrkräfte schon Erfahrungen. Borderline-Personen können sehr manipulierend sein. Das haben viele Lehrkräfte auch schon persönlich erlebt. Davor muss ich mich selbst schützen, war eines der Aha-Erlebnisse. Einen weiteren Erkenntnisgewinn gab es hinsichtlich der ADHSler. Personen mit ADHS sitzen nicht zappelnd in der Schulklasse und schmeißen Sachen durch die Gegend, weil sie mehr Aufmerksamkeit bekommen möchten, sondern weil sie Probleme mit der Aufmerksamkeit haben. Die Person ist nicht unaufmerksam, sie hat nur Probleme mit der Aufmerksamkeit. Das ist ein großer Unterschied.
Schulwerk: Welche Konsequenzen hat das im Umgang mit der Person?
Köster: Wichtig ist, dass Lehrkräfte wissen, welches Spektrum an Persönlichkeiten in ihrer Klasse sitzen könnten und sie ein Grundverständnis zu den Störungsbildern haben. Und daraus die richtigen Konsequenzen ziehen, den Unterricht zu gestalten. Den muss ich nicht individuell auf einzelne Persönlichkeiten abstimmen. Denn im Endeffekt ist es egal, ob man einen Borderliner, einen ADHSler und drei Autisten im Klassenraum hat. Die Diagnose ist nicht wichtig. Entscheidend ist, ganz klare Regeln einzuführen und dem Unterricht eine Struktur zu geben. Menschen aus dem Spektrum Autismus, aber auch Menschen mit ADHS sind Regeln und klare Strukturen sehr wichtig. Das tut aber auch Menschen ohne Diagnose gut.
Wichtig ist, das Störungsbild zu verstehen
Schulwerk: Was können die Teilnehmenden nach dem Workshop besser als vorher?
Köster: Sie haben viele Informationen zu den Störungsbildern erhalten. Zudem haben wir viele Filme geschaut, in denen junge betroffene Menschen selbst berichten: Wie kam es zu der Diagnose? Gab es auch Falschdiagnosen? Wie ging es ihnen mit den Medikamenten? Was passierte, wenn sie Medikamente abgesetzt haben? Das ist auch für Lehrkräfte wichtig zu wissen. Warum kann ein Mensch heute so ticken und morgen ganz anders? Warum könnte es sein, dass sich eine Person so oder so verhält? Es ist wichtig, dass man als Lehrkraft das Störungsbild versteht. Das Wissen trägt dazu bei, dass man das Verhalten der Schüler*innen nicht persönlich nimmt, dass man im Unterricht mit den Schüler*innen über bestimmte Störungsbilder sprechen kann. Es hilft, nach Lösungen zu suchen, den Unterricht entsprechend zu gestalten oder neue Ideen zu entwickeln, anders mit der Situation umzugehen.
Schulwerk: Was ist die wichtigste Erkenntnis, die Sie mit dem Workshop transportieren möchten?
Köster: Ich habe kein Werkzeug, das in allen Situationen greift. Das ist der Unterschied zu einer medizinischen Ersten Hilfe. In dem Fall gibt es ganz klare Schritte, die ich anzuwenden habe. Bei der psychischen Hilfe gibt es keine klaren Schritte, die ich abarbeiten kann. Jeder Mensch ist individuell. Die Bandbreite an Verhaltensweisen und Reaktionen ist groß. Ersthelfende sollen dafür sensibilisiert werden, sich wieder mehr um andere Menschen zu kümmern. In der Ersten Hilfe für psychische Gesundheit sollen sie mit dem Baukasten die nötige Sicherheit bekommen: Wie kann ich jemanden ansprechen, unterstützen, wie kann ich jemandem Hilfe anbieten? Erste Hilfe für psychische Gesundheit bedeutet sich gegenseitig zu unterstützen und zu zeigen: Du bist wichtig.